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 MODUL B 

Die 1990er Jahre freilegen


ZUM VERHÄLTNIS VON VERGANGENHEIT UND GEGENWART




Das Modul rückt mit den 1990er Jahren eine Phase der Zeitgeschichte in den Blick, die historisch und erinnerungskulturell lange unscharf blieb. Es soll historische Einblicke liefern und dazu beitragen, die Bedeutung der 1990er Jahre für die Gegenwart zu reflektieren.


Aktuell erleben wir in der Popkultur ein Revival der 1990er Jahre. 90er Partys sind in und die seinerzeit als politisches Statement getragene Bomberjacke ist heute ein beliebtes Modeaccessoire (wie auf dem Foto oben). Die 1990er Jahre sind präsent – und irgendwie auch nicht. Der Titel des Moduls „Die 1990er Jahre freilegen” bezieht sich auf genau diese Schieflage. Wir haben uns den Titel von einem dicken Buch geliehen, das 2019 erschienen ist und „Das Jahr 1990 freilegen” heißt. In dem Buch geht es darum, mit vielen Fotos und Textausschnitten, zeitgenössischen Interviews und retrospektiven Überlegungen das Jahr 1990 aus den verschütteten Erinnerungen auszugraben – eben freizulegen – und mosaikhaft zusammenzusetzen.


Bomberjacken im Sonderangebot, 2019. Foto: Privat


Hintergrund war die Beobachtung der Macher*innen, dass das Jahr 1989 in Erinnerung und Gedenken ausgesprochen präsent ist. Die Ereignisse von 1990 aber – die Wahlen im März, die Währungsunion, die Gründung der Treuhand-Anstalt, die deutsche Vereinigung selbst – weit weniger. Noch vager wird es im öffentlichen Erinnern, wenn es um die darauffolgenden Jahre, die sog. Transformationszeit, geht. Also um jene Zeit, die für nahezu jede*n Menschen in der DDR (unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Lage und Wohnort) Veränderungen in der Lebenswelt bedeutete. Mit den neuen Freiheiten kamen neue Herausforderungen, Ängste, Sorgen und Probleme. Auf die Hoffnungen von 1989 folgten wenig später Aufbrüche und Neuorientierungen ebenso wie Enttäuschung und Desillusionierung. Die Spannungen, Konflikte und Krisen aus dieser Zeit prägten die ostdeutsche „Zusammenbruchsgesellschaft“ (A. Leistner/M. Wohlrab-Sahr). Und sie prägen die Wirtschafts- und Sozialstruktur, aber auch die politische Kultur im Osten bis heute. Es lohnt daher, die 1990er Jahre genauer anzuschauen, sie freizulegen, und sie als eine „Vorgeschichte der Gegenwart” (A. Doering-Manteuffel/L. Raphael) genauer in den Blick zu nehmen.



Hintergrund: Wirtschaftliche und soziale Transformation in Ostdeutschland und ihre Folgen

Die frühen 1990er Jahre waren im Osten Deutschlands von massiven Umbrüchen geprägt, die nahezu alle Lebensbereiche der Menschen betrafen. Die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen gingen mit einer tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Transformation einher. Zentrale Probleme waren Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung. Diese hatten kurz-, mittel- und langfristige Folgen für das gesamte gesellschaftliche Gefüge und die politische Kultur.
Um die Radikalität der Transformation zu beschreiben, spricht der Historiker Ralph Jessen von dem Prozess als der „Revolution nach der Revolution“, während dem „in der konkreten Lebenswelt jedes Einzelnen das Unterste zuoberst“ gekehrt wurde.




Demonstration in Leipzig, 1990. Foto: Maria Notbohm


In diesem Modul richten wir den Blick auf zwei Themenfelder, die die 1990er Jahre mit Blick auf jugendliche Lebenswelten thematisieren: Gewalt und Rassismus als Erfahrung der Wende- und Nachwendezeit (Teilmodul 1) sowie Jugend und Umbruch (Teilmodul 2). Damit wird in diesem Modul auch das Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart reflektiert. Es geht also auch um die Frage, welche Folgen und Auswirkungen die 1990er Jahre auf die gegenwärtige Gesellschaft haben.

Teilmodul 1 „Baseballschlägerjahre“ setzt sich ausgehend von drei ausgewählten Songs mit Erfahrungen mit Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt in den 1990er Jahren auseinander. Sascha von den Toten Hosen und Fremd im eigenen Land von Advanced Chemistry erschienen beide 1992 und reflektieren aus unterschiedlichen Perspektiven die massive Zunahme von „Fremdenfeindlichkeit“ (ein zeitgenössischer Begriff) als „Schattenseite der deutschen Einheit”, wie es die Historikerin Christina Morina einmal beschrieben hat. Dass die „Baseballschlägerjahre“ kein Phänomen ausschließlich der 1990er Jahre waren, sondern Ostdeutschland bis weit in die Nullerjahre prägten, behandelt der Song 9010 (2019) von Kummer. Der Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub thematisiert hier Gewalterfahrungen als Alltagserfahrung.



Hintergrund: „Baseballschlägerjahre”


Der Begriff stammt von dem Journalisten Christian Bangel, der in seiner Jugend in Frankfurt/Oder selbst prägende Erfahrungen mit rechtsextremer Gewalt gemacht hat. Unter dem Hashtag #baseballschlaegerjahre rief er 2019 bei twitter dazu auf, von ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Die bis dato hunderten Berichte verdeutlichen die Vielzahl von Übergriffen und Angriffen durch Neonazis in den 1990er Jahren v.a. in ostdeutschen Dörfern und Städten.



Teilmodul 2 (noch in Arbeit) basiert auf Songs, die in den letzten Jahren entstanden sind und sich mit ostdeutschen Erfahrungen im Umbruchsprozess auseinandersetzen. Zielt 9010 (2019) von Kummer auf eine reflektierte Auseinandersetzung mit Gewalt als Alltagserfahrung und thematisiert Plattenbau O.S.T. (2015) von Zugezogen Maskulin Perspektivlosigkeit in den Nullerjahren, eröffnet der Rapper Trettmann in Grauer Beton (2017) das Panorama einer Zeit und eröffnet den Blick auf eine Jugend, die von Perspektivlosigkeit und Prekarität geprägt war. In dem Rap-Song König der Hunde (2017) von Romano beschreibt dieser die Lebenswelt von Jugendlichen im Umbruch in der Großstadt (Berlin) und die Ambivalenz der Zeit als ein dichtes, sich rasant veränderndes Neben- und Übereinander von ganz widersprüchlichen Erfahrungen. Mit der Zeile „Wir ziehen Freiheit auf Lunge” findet er ein Bild für die Erfahrung von Rasanz und Ambivalenz, die typisch ist für v.a. großstädtisch geprägte Teile der sog. „unberatenen Generation”.


Hintergrund: Die Generation der Unberatenen”

Der Generationsforscher Bernd Lindner gab den, nach 1975 geborenen, Kindern der DDR das Label „Generation der Unberatenen”. Damit beschreibt er eine Generation, die sich weitgehend ohne Hilfestellung von Erziehungsautoritäten- und Institutionen (also Eltern, Pädagog*innen, Jugendorganisationen, Vereine oder Medien) in dem Nachwendejahrzehnt orientieren musste. Weitere, inhaltlich zum Teil anders gelagerte, Bezeichnungen sind Dritte Generation Ostdeutschland”  (als eine spätere Selbstbezeichnung) oder „Wendekinder”.




Zum Weiterlesen:

Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöllner: Die lange Geschichte der “Wende”. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.

Norbert Frey/Franka Maubach/Christina Morina/Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.

Thomas Großbölting: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90, Bonn 2020.


Alexander Leistner/Monika Wohlrab-Sahr (Hrsg.): Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs, Köln 2021.


Bernd Lindner: Zwischen Integration und Distanzierung. Jugendgenerationen in der DDR in den sechziger und siebziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (2003), S. 33-39.


Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Frankfurt am Main 2019.

Rechte Gewalt in den 1990er Jahren (Themenheft), Aus Politik und Zeitgeschichte 72 (2022), H. 49-50






 

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