MODUL A
„Freiheit auf Lunge” – Wandel erfahren und dokumentieren
WANDEL ZWISCHEN ERFOLGS- UND VERLUSTGESCHICHTE
„Wir ziehen Freiheit auf Lunge” ist ein Zitat aus dem Song König der Hunde (2017) von Romano. Er bezieht sich auf die 1990er und damit auf ein Jahrzehnt rasanten Wandels und widerstreitender Gefühle. Gerade Jugendliche waren hin- und hergerissen zwischen Freiheit und Haltlosigkeit. Selten gab es eine Zeit, in der Unsicherheit, Hoffnungen, große Erwartungen und Enttäuschungen so dicht zusammen lagen. Der politische und gesellschaftliche Wandel hatte gerade für Kinder und Jugendliche unmittelbare Auswirkungen.
Die 1990er Jahre sind das Jahrzehnt der Transformation, des umfassenden Wandels der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Es veränderte sich vor allem für die Menschen aus der ehemaligen DDR der komplette Alltag. Während mittlerweile sehr gut die Transformation des politischen und wirtschaftlichen Systems erforscht worden ist, bleiben aber die persönlichen Erfahrungen des Wandels noch weitgehend unbeachtet.
Viel und Neues zu entdecken. Kosmetikverkauf in Leipzig, März 1990. Foto: Maria Notbohm
In der Popkultur sind es nun aber gerade diese persönlichen Erfahrungen von Aufbruch, Hoffnung oder Enttäuschung, die typisch für die 1990er Jahre sind. Diese Geschichten, Lieder oder Filme zeigen die langfristigen Auswirkungen und Übergänge in Schule, Familie, Freundschaft, Konsumverhalten – aber auch mit Blick auf Zukunftserwartungen.
Diese Veränderungen waren von den Menschen, vor allem den ehemaligen Bürger*innen der DDR, gefordert und begrüßt worden. Bald jedoch (über)forderten sie viele auch. Die ursprüngliche Euphorie konnte schnell in Enttäuschung umschlagen. Statt der, von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ gehörten bald Massenarbeitslosigkeit und Zukunftsängste zum Alltag vieler Menschen in den neuen Bundesländern.
Hintergrund: Das Versprechen auf „blühende Landschaften” und das Problem der Massenarbeitslosigkeit
Einer der Hauptgründe für die Unsicherheits- und Enttäuschungserfahrung in der Zeit lag in der Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Lage. In seiner Fernsehansprache vom 1. Juli 1990 anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl prognostiziert: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln [.] Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.“ Doch das Gegenteil war zunächst der Fall: 1993 besaßen weniger als 30 % aller ostdeutschen Beschäftigten noch den gleichen Arbeitsplatz wie vor der Wiedervereinigung. 80 % aller über 50-Jährigen hatten ihren Arbeitsplatz verloren.
Einer der Hauptgründe für die Unsicherheits- und Enttäuschungserfahrung in der Zeit lag in der Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Lage. In seiner Fernsehansprache vom 1. Juli 1990 anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl prognostiziert: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln [.] Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.“ Doch das Gegenteil war zunächst der Fall: 1993 besaßen weniger als 30 % aller ostdeutschen Beschäftigten noch den gleichen Arbeitsplatz wie vor der Wiedervereinigung. 80 % aller über 50-Jährigen hatten ihren Arbeitsplatz verloren.
JUGENDLICHE LEBENSWELTEN UM 1990
Während die Elterngeneration in den Nachwendejahren alle Aufmerksamkeit brauchte, um sich unter den geänderten Bedingungen zurecht zu finden, waren die 12- bis 16-Jährigen häufig auf sich selbst gestellt. Was der radikale gesellschaftliche Wandel und die Veränderungen im sozialen Umfeld, in den Familien und in anderen vertrauten Räumen für Jugendliche damals bedeutete, kommentiert bspw. der Rap-Musiker Romano in dem Song König der Hunde von 2017.
Hier wird die Euphorie des Novembers 1989 kontrastiert mit den Erfahrungen der neuen, überwältigenden Konsumwelt. Das durchstrukturierte und organisierte Leben als Pionier wurde rasend schnell abgelöst von wesentlich verlockender scheinenden Möglichkeiten der Lebensgestaltung: „Pioniertuch im Müll, ich mache, was ich will“. Der Song reflektiert damit die Prozesse des Umbruchs und ihre Wahrnehmungen durch die sog. „Generation der Unberatenen“.
Hoffnungsfroh in die Zukunft? Szene in Leipzig, Frühjahr 1990. Foto: Maria Notbohm
Hintergrund: Die „Generation der Unberatenen”
Der Generationsforscher Bernd Lindner gab den nach 1975 geborenen Kindern der DDR das Label „Generation der Unberatenen”. Damit beschreibt er eine Generation, die sich weitgehend ohne Hilfestellung von Erziehungsautoritäten- und Institutionen (also Eltern, Pädagog*innen, Jugendorganisationen, Vereinen oder Medien) in dem Nachwendejahrzehnt orientieren musste. Weitere, inhaltlich zum Teil anders gelagerte, Bezeichnungen sind „Dritte Generation Ostdeutschland” (als eine spätere Selbstbezeichnung) oder „Wendekinder”.
WANDEL ALS ZENTRALE MENSCHLICHE ERFAHRUNG THEMATISIEREN – WORUM GEHT ES IN DEN TEILMODULEN?
Unabhängig von den 1990er Jahren als einem Jahrzehnt grundlegender Veränderungen, ist Wandel (also die Veränderung im Verlauf von Zeit) eine zentrale menschliche Erfahrung. Schüler*innen sind damit täglich mit Wandel konfrontiert – sei es durch einen Anbau an das gewohnte Schulgebäude oder durch neue Mitschüler*innen, die das gewohnte Gefüge von Freundschaft durcheinanderbringen können. Sei es durch die Erzählung von Eltern oder Großeltern, die nicht müde werden zu berichten, wie sich ein Platz oder ein Straßenzug verändert hat, dass der Blumenladen irgendwann geschlossen werden musste oder dass früher an der Stelle des Sumpfes ein kleiner idyllischer See gelegen hat.
Das Wandel-Bewusstsein, also die Einsicht darin, dass sich Strukturen, Systeme und Menschen im Laufe der Zeit verändern und dass das auch zukünftig so sein wird, ist eine zentrale Dimension des Geschichtsbewusstseins. Genau das adressieren die Teilmodule im Modul „’Freiheit auf Lunge’ – Wandel erfahren und dokumentieren”. Sie unterbreiten Vorschläge, wie sich Jugendliche anhand der beiden Songs König der Hunde (2017) von Romano und Wind of Change (1990) von den Scorpions die spezifischen Erfahrungen von Wandel in den Nachwendejahren erschließen können. Über die Module bieten wir historisches Arbeiten mit und über Musik als Quelle an und adressieren zugleich die in Rahmenlehrplänen festgeschriebenen Kompetenzen historischen Lernens.
Die Teilmodule orientieren sich am Zeitfenster schulischen Unterrichts. Sie lassen sich aber genauso gut in Workshops an außerschulischen Lernorten bearbeiten. Während das erste Teilmodul „Zukunftserwartungen im Wandel der Zeit“ vor allem auf die Analyse von Liedtext, Komposition und Musikvideo des Songs Wind of Change abzielt, will das Teilmodul „Wandel in Worte fassen“ die eigenständige Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erfahrungen von Wandel anleiten. Hier arbeiten die Jugendlichen neben dem Song König der Hunde mit literarischen Erinnerungen an die Wende- und Nachwendezeit und werden zum kreativen Schreiben angeleitet.
Zum Weiterlesen (Auswahl):
Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Katrin Zöllner: Die lange Geschichte der “Wende”. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.
Judith Enders (Hg. u.a.): Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen, Berlin: Links Verlag, 2013.
Judith Enders (Hg. u.a.): Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen, Berlin: Links Verlag, 2013.